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  Presseberichte
  Ruhr-Nachrichten, 11.11.1989

UdSSR-Organist Harry Grodberg spielte Bach und neue Kompositionen im HSH

Russische Orgelmusik aus erster Hand

Altstadt. Daß es in der Sowjetunion Musiker gibt, die sich intensiv mit der Orgel befassen, wer wußte das hierzulande schon? Die russisch-orthodoxe Liturgie kennt keine Orgel, und somit gibt es in Rußland schon seit jeher keine Orgelbautraditon und mithin keine Literatur für das Instrument. Das Verhältnis zur Orgel beginnt sich indessen zu verändern, seit sich eine Reihe von Musikern lebhaft für sie engagieren.

Einer der Pioniere dieser russischen Orgelbewegung - Harry Grodberg - war nun an der Orgel des Hans-Sachs-Hauses zu Gast. In seiner Heimat hat er sich für das Orgelschaffen Johann Sebastian Bachs besonders eingesetzt, das dort weitgehend unbekannt geblieben ist. So widmete Grodberg auch in Gelsenkirchen den ersten Teil seines Programms dem Werk Bachs; er spielte Präludium und Fuge C-Dur (BWV 545), Pastorale F-Dur (BWV 590) und Toccata und Fuge d-Moll (BWV 538).

Grodberg machte auf souveräne Weise deutlich, daß er sich zu den Bachkennern ersten Grades rechnen darf: seine Auffassung der Musik, seine lebendige Registrationsweise zeigen an. daß er sich mit den Bachinterpreten im europäischen Raum höchst fruchtbar auseinandergesetzt und zu eigenen, fundierten Auffassungen Bachscher Aufführungspraxis gefunden hat. Virtuoser Höhepunkt seine Bachspiels war wohl die Toccata, die er in einem atemberaubenden Tempo und mit geradezu akrobatischem Pedalspiel temperamentvoll steigerte.

Neugier erweckte freilich vor allem der zweite Teil des Programms, weil Harry Grodberg hier zeitgenössische russische Orgelkomponisten vorstellte. Der Georgier Mikael Tariwerdiew (Jahrgang 1931) hat sich einen Namen mit Filmmusiken, Opern- und Ballettproduktionen gemacht; aber in seinem Werkverzeichnis nimmt die Orgelkomposition einen gewichtigen Platz ein. Sein Orgelkonzert op. 91 ist Grodberg gewidmet; es hat den Titel "Kassandra", was anzeigt, daß die Orgel hier nicht als Kircheninstrument aufgefaßt werden will.

Gleichwohl weist das viersätzige Werk Merkmale auf, die auf ein Studium europäischer Vorbilder schließen lassen: neobarocke Figuren und romantische Harmonievorstellungen sind vorherrschend; gelegentlich gibt es Ausweitungen in freitonale Zonen. Mit der Seherin Kassandra verbinden sich düstere Prophezeiungen - davon war, für hiesige Ohren, aus der Musik wenig wahrzunehmen, so daß der Titel eher irritierte.

Oleg Nirenburg (Jahrgang 1938) schrieb mehrere Konzerte und Sonaten für Orgel und gilt als "erster bedeutsamer Vertreter einer eigenständigen russischen Orgelmusik", wie Grodberg im Programmheft schreibt. Seine "Fantasie über ein russisches Thema" könnte freilich - in Satzstruktur wie Harmonik - auch von Max Reger sein, was über die Qualität des Stückes nichts besagt, wohl aber über die Schwierigkeit, ohne Tradition eine Schule zu bilden.

Zum Abschluß erklang ein Präludium und Fuge e-MolI von Dimitri Schostakowitsch (1906-75) - das für Klavier geschriebene Opus verdankt seine Entstehung der Auseinandersetzung mit Bach, ist gewissermaßen eine Hommage für ihn. Harry Grodberg hat die Komposition für Orgel umgearbeitet, und so klingt sie nun auch wie ein nach heute transportierter Bach.

Ein engagiertes Programm -ein erstklassiger Musiker - ein außergewöhnliches Instrument: was kann man dem Publikum besseres bieten? Aber wo bleibt es? Stimmt vielleicht nur die Werbung nicht? Orgelfreunde und Kenner gibt es in unserer Stadt ja doch viele.

Harry Grodberg - vom Gelsenkirchener Instrument fasziniert, wie er in bestem Deutsch sagte - spielte gleich zwei Zugaben.

Heinz-Albert Heindrichs

   

 

 

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